Für Patient*innen mit Essstörung und ihre Angehörigen fühlt es sich oftmals so an, als gäbe es keinen Ausweg aus der Essstörung. In solchen Situationen kann es hilfreich sein, von den Erfahrungen anderer (ehemaliger) Betroffener zu hören. Daher haben wir Patient*innen und ehemalige Patient*innen gebeten, uns etwas von ihrer Geschichte zu erzählen und freuen uns, hier einige "Mutmacher" zur Verfügung stellen zu können (Namen und Alter der Patient*innen wurden geändert).
Ich dachte oft, dass ich nie wieder ohne Essstörung leben kann oder werde, konnte mir nicht vorstellen, dass es je wieder "normal" wird und eine Zeit kommt, in der die Anorexie keine Rolle mehr spielt. Doch heute gehe ich anders mit meinen Problemen um. Dabei haben Psychotherapie, ein Aufenthalt in einer Wohngruppe und - so glaube ich - viel Nachsichtigkeit und Geduld mit mir selbst geholfen. Seit längerem hatte ich keine essgestörten Gedanken mehr über Nahrung oder mein Gewicht. Endlich muss ich nicht mehr in ständiger Furcht und mit der Planung meines Tages um das Essen und die Kontrolle dessen leben, sondern bin wieder spontan und frei.
Elke, 32 Jahre
Kennt ihr das vielleicht noch, wenn ihr als kleines Kind beim Spielen gestolpert und hingefallen seid? Ihr habt geweint, die Mama hat sich zu Euch gebeugt und mit Euch die Wunde angeschaut. Die Wunde ging dadurch nicht weg. Aber die Mama hat Euch getröstet und ein Pflaster drauf gemacht. Dann habt ihr vielleicht noch ein bisschen geweint, aber die Wunde war versorgt, die Schmerzen haben nachgelassen und ihr habt weitergespielt. Das habt ihr bestimmt mehr als einmal erlebt, aber ihr habt ja gelernt und wart vielleicht vorsichtiger oder ihr wusstet, es tut nicht so lange weh.
In meiner Therapie habe ich viel über mich selbst gelernt. In unangenehmen Situationen, z. B. wenn mich jemand verletzt hat, war meine Essstörung wie eine Decke. Ich habe meine Verletzung "einfach" zugedeckt und versteckt. Warum? Weil ich Angst vor den Gefühlen hatte. So habe ich die Verletzung nicht so gespürt.
Heute lasse ich diese Gefühle zu. Wenn mich heute jemand verletzt, fühle ich Traurigkeit, Wut oder Enttäuschung. Ich unterdrücke diese Gefühle nicht. Ich höre mir zu, ich weine oder schimpfe. Ich bin mutiger, weil ich mir vertraue, dass ich mit diesen Gefühlen umgehen kann und sie nicht vor mir verstecken muss. Es ist okay, wenn ich nach der "Decke" suche, aber mit jeder neuen Erfahrung werde ich mutiger.
Mila, 50 Jahre
Mit 20 hatte ich erkannt, dass ich ein Problem habe. Also habe ich recherchiert. Und fast alle Antworten, die ich finden konnte, waren: Therapie. Ich habe mich also auf die Suche nach einer Psychotherapie gemacht und bin bei meiner bis heute geschätzten Therapeutin gelandet. So viele Fragen, Unsicherheiten und für mich nicht erklärbare Dinge in meinem Leben ergaben plötzlich Sinn. Wir haben Probleme aufgearbeitet und gemeinsam Konzepte in der Therapie entwickelt, welche mir ein ganz neues Lebensgefühl gegeben haben.
Gabriel, 26 Jahre
Morgenröte
Endlich – die schwere, graue Decke, die mein Leben die letzten Wochen überdeckt hat, hebt sich langsam. Ich schaue darunter hervor, zögerlich noch und entdecke das Leben. Am Horizont entdecke ich eine zarte Morgenröte, ein Hauch von Leichtigkeit und Lebensfreude. Aber das, was ich da wahrnehme, macht Lust auf mehr. Noch vor kurzer Zeit konnte ich kaum glauben, dass ich aus der zähen Masse aus Traurigkeit und Erstarrung wieder herausfinden könnte. Die Erstarrung weicht, ich erwache zu neuer Lebendigkeit. Ich merke, dass ich selbst in diesen dunklen Stunden nicht einfach alles nur aushalten muss, sondern dass ich auch dann die Zügel in der Hand halte und etwas ändern kann. An manchen Tagen war es kaum zu schaffen, etwas zu tun. Aufzustehen, den Tag zu gestalten – manchmal vergleichbar anstrengend wie eine stundenlange Wanderung. Ja, nicht immer ist es mir gelungen mich zu aktivieren, mir die Chance zu geben aus dem Tag etwas zu machen. Diese Phasen, geprägt von Müdigkeit und Leere waren wohl notwendig um mich neu auszurichten. Langsam habe ich mich wieder an mein Leben herangetastet, habe mir die Zeit genommen, um zu schauen, wo ich eigentlich hinwill. Einfach die alten, ausgetretenen Pfade weiter zu beschreiten - eine Option. Aber diese haben nicht mehr zu mir und meinem Erleben gepasst. Sie waren bequem, weil bekannt, dutzende Male schon beschritten. Irgendwann bin ich aber selbst auf diesen Wegen nur noch entlang gestolpert, so als ob ich plötzlich die Orientierung verloren hätte.
Die Entscheidung einen Stopp einzulegen, mir Zeit zum Luft holen zu gönnen, war genau die adäquate Reaktion. Zuerst wollte ich es nicht wahrhaben, dass nichts mehr geht, dass mir für die einfachsten Verrichtungen die Energie fehlen sollte. Mir, die ich immer vor Tatendrang sprühe, ich, die ich normalerweise die treibende Kraft bin, mir fehlte auf einmal der Antrieb? Ich wollte es nicht wahrhaben, ich wollte diese Solveig nicht, dieses kraftlose Etwas. Irgendwann verließ mich aber auch die Kraft, um gegen meine Kraftlosigkeit anzurennen, mich diesem Gefühl entgegenzustemmen. Gut, dass ich die Signale erkannt und ernst genommen habe. Ja, es hat den einen oder anderen Schubs gebraucht, es hat den Spiegel gebraucht, aus dem ich mir ungeschminkt entgegengeblickt habe. In der Zeit des Entdeckens, habe ich mich wiedergefunden.
Plötzlich war genügend Zeit, um kreativ zu sein, um die Natur achtsam zu entdecken, nur im Hier und Jetzt. Manchmal habe ich an meinem Wert gezweifelt, denn Leistung war da ja nicht. STOPP! Doch, ich habe ganz viel geleistet: Ich habe mich der Orientierungslosigkeit ausgesetzt, habe nach neuen Wegen gesucht, habe begonnen meinen Lebensatlas neu zu schreiben, angepasst an meine Bedürfnisse. Das war oftmals richtig schwere Arbeit. Sich auch dann anzunehmen, wenn so gar nichts gelingen will, wenn man machtlos der Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit ausgeliefert ist. Dann, wenn die Tränen gar nicht mehr aufhören wollen zu fließen, wenn der Blick aus dem Fenster nur Dunkelheit zeigt. Aufgeben erschien mir da oft die einfachere Lösung. Aber, da war dann auch die Erinnerung an bessere Tage, an Zeiten, in denen das Leben so verdammt lebenswert schien. Diese Aussichten haben mich den Kampf aufnehmen lassen, jeden Tag als neue Chance erscheinen lassen, etwas mit diesem Geschenk Leben anzufangen. Ohne Wegbegleitung unvorstellbar. Zusammen mit meinen Begleitern aber machbar. Stück für Stück, Tag für Tag Annäherung an das Leben. Langsam spüre ich, wie ich wieder im Leben ankomme. Dazu war es aber auch nötig zu erkennen, dass nicht mehr alles so passt. Mir ist klargeworden, dass ich nicht immer weiter meine Gefühle ignorieren kann. Sie ins Leben hinein zu nehmen, ihnen den erforderlichen Raum zu geben, so soll es fortan sein. Auch die dunkelsten Momente vergehen irgendwann, die Traurigkeit kommt und geht, ist an manchen Tagen schwerer auszuhalten als anderen Tagen, aber es ist mit ihr auszukommen und irgendwann ist sie auch wieder weg. Ich bin nicht nur auf der Welt, um zu arbeiten. Nein, ich bin auch da, um meine Bedürfnisse zu leben.
Jetzt ist es meine Aufgabe, auf diesen neuen Wegen weiter zu gehen und auf diesem Weg auch über das Gebirge aus Angst, das die Essstörung auf diesem Weg aufgetürmt hat, zu überqueren. Einfach wird der Weg nicht werden, dessen bin ich mir bewusst. Aber ich durfte erfahren, dass ich selbst in Zeiten der scheinbar völligen Erstarrung und Mutlosigkeit genug Kraft in mir habe, um da wieder herauszufinden. Ich traue mir die Besteigung des Gebirges namens Essstörung zu, das alleine zählt. Die Besteigung wird sicherlich nicht einfach werden, aber ich traue mir diese Expedition zu. Und wenn ich dazwischen Pausen zum Luft holen, zum Kräftesammeln brauche, auch gut. Aktiv zu sein, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, ist in jedem Fall besser als in einem Kostüm durch die Welt zu laufen, dass völlig unpassend ist. Auch wenn aktiv sein eben an manchen Tagen nicht mehr ist als den Tag irgendwie zu überstehen. Alles darf sein, aber ich sollte dabei immer das Gefühl haben, ich zu sein. Am Ende eines jeden Tages sollte ich sagen können: Ja, es war ein guter Tag, weil ich authentisch war, weil es an diesem Tag Raum für mich gegeben hat.
Solveig, 50 Jahre
Nun sitze ich hier und soll etwas Ermutigendes für Betroffene mit derselben Krankheit sagen. „Na gut“, denke ich, „läuft!“ und fange an zu überlegen. Was hätte oder hat mir denn Mut gemacht?
Und plötzlich werden die Gedanken still! Einfach nichts, völlige Leere. Die Wahrheit ist nämlich, kein Spruch oder kein Statement der Welt hätte meine Angst in geringster Weise weniger werden lassen. Nichts hätte mir Mut gegeben, sondern womöglich noch mehr eingeschüchtert, da meine Welt meine Hülle war. Dabei gab es Phasen, da war ich mutig und es gab auch Phasen, da war ich motiviert, aber nicht mutig und es gab diese Phasen vollkommener Angst. Erst als ich erkannte, dass außerhalb meiner Welt noch etwas existiert, dass mir vielleicht so viel mehr geben kann als meine Hülle, war ich bereit durch diese Angst durchzugehen und es hat sich gelohnt. Keine Angst der Welt kann dich töten, aber die Krankheit schon.
Christina, 36 Jahre
***Namen und Altersangaben wurden geändert.***