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woman with eating disorder crying scale

DGESS Stellungnahme zu neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zu Essstörungen


Essstörungen: Zahlen richtig einordnen – Versorgung und Prävention entschlossen ausbauen

Die jüngst vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen zu Essstörungen in deutschen Krankenhäusern haben die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein drängendes Thema gelenkt: Zwischen 2003 und 2023 hat sich die Zahl stationärer Behandlungsfälle bei 10- bis 17-jährigen Patientinnen verdoppelt, während die Gesamtzahl aller stationären Essstörungsfälle 2023 leicht unter dem Niveau von 2003 lag. Im Jahr 2023 wurden bundesweit 12.100 stationäre Fälle gezählt, davon 93 % bei Frauen. Mit einer durchschnittlichen Verweildauer von über 53 Tagen lagen diese Behandlungen deutlich über dem üblichen Klinikdurchschnitt.

Diese Zahlen belegen die anhaltende Relevanz des Themas – müssen jedoch differenziert betrachtet werden, um Fehlinterpretationen zu vermeiden:

  1. Nur stationäre Behandlungen erfasst
    Die Statistik umfasst ausschließlich Krankenhausaufenthalte. Essstörungen werden jedoch häufig ambulant behandelt, insbesondere Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung. Aus diesen Daten lässt sich daher weder die tatsächliche Häufigkeit noch der Verlauf aller Essstörungen in der Bevölkerung ableiten.
  2. Überrepräsentation von Anorexia nervosa
    Rund 75 % der dokumentierten Fälle entfallen auf Anorexia nervosa. Andere Essstörungen sind deutlich unterrepräsentiert – obwohl Krankenkassendaten, wie eine Analyse der KKH, sowie Forschungsergebnisse zeigen, dass diese im ambulanten Bereich wesentlich häufiger vorkommen.
  3. Geringe Fallzahlen bei Männern – mögliche Verzerrung
    Der niedrige Anteil männlicher Patienten könnte darauf zurückzuführen sein, dass Essstörungen bei Männern seltener erkannt oder fehldiagnostiziert werden. Dies führt oft zu einer verspäteten Behandlungsaufnahme und damit zu schlechteren Behandlungschancen.

Versorgungslage in Deutschland unzureichend
Betroffene und Angehörige sehen sich nach wie vor mit langen Wartezeiten, fehlenden Übergängen zwischen Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie sowie einem Mangel an spezialisierten Angeboten für chronisch Erkrankte konfrontiert.

Notwendige Handlungsfelder
Um den komplexen Herausforderungen wirksam zu begegnen, sind gezielte Investitionen in Forschung, Prävention und innovative Versorgungsformen erforderlich. Die DGESS sieht besonderes Potenzial in folgenden Bereichen:

  1. Digitale Interventionen: e-Health, m-Health, Virtual-Reality- und videobasierte Programme für Frühintervention, Nachsorge und zur Überbrückung von Wartezeiten.
  2. Home-Treatment-Modelle: teambasierte, aufsuchende und integrierte Versorgung als Alternative zu langen stationären Aufenthalten bei Anorexia nervosa.
  3. Sektorenübergreifende Versorgung: regionale Netzwerke mit interprofessioneller Zusammenarbeit, um Versorgungslücken zu schließen.
  4. Übergangsmanagement: strukturierte, partizipative und lebensweltnahe Übergänge vom Jugend- ins Erwachsenenalter.
  5. Intensivierte ambulante Kurzzeitbehandlung: zur raschen Symptomlinderung und Sicherung sozialer sowie beruflicher Teilhabe.
  6. Präventionsmaßnahmen: nachweislich wirksame Programme verstetigen und an digitale Lebenswelten (Social Media) anpassen; reine Appelle reichen nicht aus.

Fazit
Die aktuellen Krankenhauszahlen zeigen nur einen kleinen Ausschnitt der Realität. Essstörungen sind und bleiben ein gravierendes gesundheitliches und gesellschaftliches Problem – insbesondere, aber nicht ausschließlich, bei Frauen und Jugendlichen. Wir fordern Bund, Länder und Krankenkassen auf, gemeinsam in den Ausbau innovativer, evidenzbasierter Versorgungs- und Präventionsangebote zu investieren. Die aktuellen Zahlen mahnen, jetzt die strukturellen Weichen zu stellen, um Versorgungslücken zu schließen und Prävention wie Behandlung nachhaltig zu stärken.

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